Am Eismeer schnappen die ersten nach Luft. 1.400 Höhenmeter in 50 Minuten, das steckt nicht jeder so einfach weg. Doch darauf kann man keine Rücksicht nehmen, schließlich erfüllt sich gerade der Traum des Lebens: einmal auf die Jungfrau! Und dann kommen sie an auf dem mit 3.454 Meter höchstgelegenem Bahnhof Europas mit High-Tech-Ausrüstung inklusive Tele und Stativ, Flip-Flops und leichtem Schwindel im Kopf.
Ab Grindelwald ist das Abenteuer zu kaufen für 194 Schweizer Franken, mit dem Zug über die Kleine Scheidegg.
Gedrängel am Bahnsteig, ein einziger Ameisenhaufen. Aufgeregt versuchen die überwiegend asiatischen Touristen wahlweise einem in die Höhe gereckten Spongebob, Handschuh oder Taschentuch zu folgen. Die mutmaßliche Anweisung, in der Gruppe zusammenbleiben, ist Gesetz. Hindernisse jeglicher Art werden überrannt. Manche filmen im Gehen, den Blick durch den Sucher geheftet. Keine kostbare Sekunde darf verloren gehen.
Irgendwann sind alle im Zug verstaut.
An der Zwischenstation Kleine Scheidegg beginnt das Spiel von vorn: aussteigen, sammeln, einsteigen. Großes Erstaunen darüber, dass die angezeigte Abfahrtszeit keine Empfehlung ist.
Irgendwann taucht die Jungfraubahn in den Tunnel ein, sieben Kilometer im Berg liegen noch zwischen Traum und Jetzt. Die Ameisen vergewissern sich, dass ihre Technik noch funktioniert. Ein erster Stopp an der Eigerwand und ein Blick durchs Felsenfenster, die Welt der Gletscher rückt näher. Am Eismeer wird die Luft dünn. Wieder fünf Minuten Ausschau, dann werden alle wieder eingesammelt.
Das Jungfraujoch ist eine Welt für sich. Wer nicht will, muss nicht mal ins Freie gehen. Es gibt auf dem “Top of Europe” ausreichend Unterhaltung: Restaurants, Uhrengeschäfte, Schokoladenshop, Klamotten- und Souvenirläden, Multimediashows – so dass jeder reinen Gewissens behaupten kann, er war oben, auf dreieinhalbtausend.
Bergauf zuckelt die Bahn mit maximal 35 Stundenkilometern, runter geht’s noch ein bisschen langsamer. Auf dem steilsten Stück mit 25 % Gefälle nur noch mit 17 km/h.
Endstation Jungfraujoch: Der Rundgang beginnt auf der Sphinx Aussichtsterrasse, weitere 117 Meter höher. In kleinen Häppchen katapultiert der schnellste Lift der Schweiz die Massen empor.
Die Alpine Sensation ist eine gut gemachte, ironische Antwort auf Schweizer Klischees: der Almöhi auf einer Bank, die Riesenschneekugel, in der gegondelt und gejodelt wird. So kitschig, dass es schon wieder schön ist.
Schnappschüsse mit Schnappatmung
Weiter geht’s zum Eispalast, einem Labyrinth aus Gängen und Skulpturen. Ein komisches Gefühl, 30 Meter dickes Eis über dem Kopf zu wissen. Der Gletscher (und damit der ganze Palast) bewegt sich, an manchen Stellen bis zu 15 Zentimeter im Jahr. Immer wieder muss nachgehauen werden. Durch die vielen Menschen (und deren Wärme) ist es nötig, das eisige Gemäuer auf -3 Grad zu kühlen.
Übrigens: Im Eispalast liegen drei Fässer Whisky, der in der kalten Höhenluft reift. Kann man im Shop eine Etage weiter unten kaufen für 195 Franken die Flasche. Produziert wird der Whisky von der Rugenbräu Brauerei in Interlaken.
Die Asiaten stehen inzwischen in der Schlange des Selbstbedienungs-Restaurants. Mittagspause mit einem Pappbecher voller Instantnudeln. Die Inder nehmen das Bollywood-Restaurant ein, eine Etage drunter.
So viel Zeit muss sein: Zwischen Eispalast und Terrasse schnell noch eine Tissot kaufen. Ein älterer Herr hat drei der teuren Uhren am Handgelenk. Die Gattin dreht und wendet seinen Arm (man hat fast Angst, dass er abfällt) und redet auf ihn ein. Pro oder kontra ist nicht zu erkennen. Ein Ende auch nicht.
Vor der Rückfahrt werden alle Besucher in den Schokoladenhimmel geschoben. Wie die guten Lindt-Leckereien entstehen, wird kurz und bündig in einer Ausstellung erklärt, an deren Ende Berge von Kugeln und Tafeln auf Käufer warten. Zu überraschend geerdeten Preisen.
Am zweiten Ausgang beginnt der Snow-Fun-Park mit Tyrolienne, Tube, Probeskilaufen oder Gletscherbar, um einfach im Liegestuhl einen Drink zu genießen. Die Asiaten fotografieren pausenlos. Weniger die Berge, eher einander. Oder in Großaufnahme sich und ein bisschen die Berge mit dem Selfiestick.
Wem der Rummel zu viel wird, der läuft zur Mönchsjochhütte, die unterhalb des Möchsgipfels auf 3.657 Metern in den Fels gehauen wurde. Eine andere Welt als die der Daueranimation, 45 Gehminuten entfernt. Oder man bucht gleich eine Tour vom Jungfraujoch über den Aletschgletscher mit Übernachtung auf der Konkordia-Hütte.
800.000 Touristen transportieren die Jungfraubahnen im Jahr auf den Berg
Jedes Jahr kommen 800.000 Besucher auf’s Jungfraujoch, dank des bequemen Zugangs. Eingeweiht wurde die Jungfraubahn 1912 nach 16 Jahren Bauzeit, die Arbeiter waren meist Italiener. Eine solche Bahn durch den Fels zu rammen, wäre heute wirtschaftlicher Irrsinn.
Ein Doppelzug misst 60 Meter. Auf dem Gleis nach unten ist gerade viel Betrieb, drei Züge fahren hintereinander. Mindestens hundert Meter Abstand muss bleiben. Herr Nediker kennt die Regeln genau. Er macht gerade seine Ausbildung zum Lokführer, in zwei Tagen hat er Prüfung.
Das Fahren sei gar nicht so schwer, sagt seine Chefin, die neben ihm steht. Man muss vielmehr wissen, was zu tun ist, wenn etwas nicht funktioniert. Etwa, wenn der Zug stehen bleibt und die Leute im Tunnel in einen anderen Zug umgeladen werden müssen. Für dieses Manöver fährt ein anderer Zug ganz nah an die havarierte Lok heran und dann wird durch den Führerstand von Zug zu Zug umgestiegen. Ernsthaft zu Schaden gekommen ist noch keiner auf der Strecke, und das, obwohl sich Touristen manchmal benehmen wie eine Herde Rinder, sagt die Chefin.
Auch heute gibt es keinen Zwischenfall, die Bahn fährt nonstop zurück ins Tal. Grindelwald wartet schon, ein kleines Souvenir geht noch.
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Die Reise wurde unterstützt durch die Jungfrau Region Tourismus.
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