Das kleine Fischerdorf ist längst verschwunden. Nichts erinnert im ältesten Viertel von Tallinn noch daran, dass man hier einst vom Meer lebte. Später wohnten Hafenarbeiter in den Holzhäusern, für dessen besondere Architektur Kalamaja bekannt wurde. Als es in den Docks immer weniger für sie zu tun gab, zogen irgendwann auch die Arbeiter weg. Nur eine Sockenfabrik produziert noch hier. Den meisten Häusern ist der Zahn der Zeit deutlich anzusehen, die einst hübschen Pastellfarben blättern ab oder sind von einem Grauschleier überzogen. Ihrem Charme kann all das nichts anhaben.
Kalamaja – vom Fischerdorf zum Trendquartier
Im Gegenteil, das scheinbar verlorene Viertel hat sich einfach neu erfunden. Günstige Mieten lockten Kreative und Künstler, es entwickelte sich in den letzten Jahren eine lebendige Gastronomieszene – Kalamaja wurde zum In-Viertel. Heute treffen sich in den mehr als 30 Restaurants, Cafés und Bars die Tallinner zum Café, auf ein Glas Wein oder zum Essen. Weniger zum Shoppen, von ein paar kleinen Boutiquen abgesehen. Hier ist man noch weitgehend unter sich, die meisten Touristen bleiben in der Altstadt.
Uns ist das ganz recht. Die Bilderbuchseite von Tallinn kennen wir bereits, den aktuellen kulinarischen Hotspot der Stadt noch nicht: Kalamaja.
Mit der Straßenbahn kommen wir von der Pöhja-puistee-Haltestelle bequem zu unserem ersten Ziel, dem Kohvik Moon, etwas versteckt in einer unscheinbaren Seitengasse. Das Ambiente ist hell und reduziert, die Küche inspiriert von russischen Gerichten, aber modern interpretiert mit lokalen Produkten. Deftige Gerichte kommen so wunderbar leicht daher wie unsere Blinis mit Rogen, saurer Sahne und sehr fein geschnittenen Zwiebelwürfeln. Dazu werden erstklassige Weine auch glasweise serviert, das gibt einen Pluspunkt. Hier würden wir gern den ganzen Abend verbringen, doch da draußen warten noch einige andere, die wir entdecken wollen. Schweren Herzens ziehen wir also nach nur einer kleinen Vorspeise wieder los.
Kulinarischer Hotspot: das älteste Viertel Tallinns
Um die Ecke quasi finden wir das Kohvik Sesoon, ebenfalls ruhig gelegen, mit einer kleinen Sonnenterrasse im Hof. Das familienfreundliche Café ist in einem ehemaligen Druckhaus untergebracht und bietet äußerst preiswerte und – wie der Name sagt – saisonbezogene Gerichte an. Die uns total überraschen, so kreativ wie diese sich auf dem Teller präsentieren: Papadam mit gewürztem Möhrenpüree und Cashewkernen oder die Rote-Bete-Würfel mit Ziegenkäse, auch die so raffiniert zubereitet, dass selbst der Mann auf der Stelle zum Vegetarier werden könnte.
Zwei weitere Tramstationen entfernt ist Telliskivi, die Creative City. Das frühere Industriegelände nahe dem dem Balti Bahnhof, zwischen Stadtzentrum und Kalamaja, ist kreatives Arbeits- und Freizeitzentrum zugleich mit zahlreichen Ateliers, Büros und natürlich jeder Menge coolen Lokalen.
Wie das Lendav Taldrik zum Beispiel. Das Interior kommt bunt und witzig daher, die Küche asiatisch lecker – und mit Riesenportionen zum genussfreundlichen Preis.
In einem alten Lokschuppen haben sich die Betreiber von F-Hoone eingerichtet. Retro-Style, sehr cool und entsprechend beliebt. Am Abend sollte man unbedingt reservieren, um die leckeren Dumplings zu probieren. An der Bar ergattern wir noch einen Platz. Vana Tallinn, der typische Kräuterschnaps, soll unseren probierfreudigen Magen für die nächsten Stationen präparieren.
Pure Kalamaja-Atmosphäre erleben wir im Boheem, einem bevorzugten Treffpunkt der Locals. Drei kleine Räume im Shabby-Chic-Style, Omas alte Plüschmöbel und hausgemachte Pfannkuchen machen das kleine Café an der Kopli-Straße aus.
Der Kontrast zum Apelsini, das neulich gegenüber eröffnete, könnte kaum größer sein. Super stylish, hell und modern, die Karte aber leider etwas beliebig. Wir rücken ins Boheem ein.
Eins hat Volker, der uns gestern die Altstadt gezeigt hat, mit auf den Weg gegeben: Kein Besuch in Kalamaja ohne Gustav & Fabrik. Dort gibt es die besten süßen Teile der Stadt, ein Muss für Kuchenfans, sagt er. Klar, das wir dem Laden zum Schluss noch einen Besuch abstatten. Die Fabrik ist Café und Weinbar in einem, im Ladenlokal gibt es die Kuchen und Törtchen auch zum Mitnehmen. Allein der Cheesecake mit Apfel und gesalzenem Karamell ist jede Sünde wert.
Noch hat sich Kalamaja seinen dörflichen Charakter bewahrt, die Hipster brachten frischen Wind. Bleibt zu hoffen, dass die (leider logische) Gentrifizierung wie in anderen Städten noch eine Weile auf sich warten lässt. Kommen werden die Investoren früher oder später auf jeden Fall, allein schon wegen der Traumlage an der Ostsee.
Infos & Adressen
Hinkommen: Mit der Straßenbahn Nr. 1 oder 2 von der Altstadt in Richtung Kopli zwei Stationen (Kohvik Moon) oder vier Stationen (Telliskivi Creative City )
Essen & Trinken:
Kohvik Moon, Vörgu 3, www.kohvikmoon.ee
Kohvik Sesoon, Niine 11, Facebook: KohvikSesoon
Lendav Taldrik, Telliskivi 60A, www.lendavtaldrik.com
F-Hoone, Telliskivi 60A, Facebook: F-Hoone
Boheem, Kopli 18, Facebook: Boheem.Kohvik.Kalamajas
Apelsini Raudtee, Kopli 3, www. apelsiniraudtee.ee
Gustav & Fabrik, Vabriku 6, www.fabrik.ee
Sparen: kann man mit der Tallinn-Card (24, 48 oder 72 Stunden gültig). Diese gewährt in rund 50 Museen kostenlosen Eintritt sowie Rabatte bei verschiedenen Touren, Shops und Restaurants. Gratis nutzen kann man damit auch die öffentlichen Verkehrsmittel in der Stadt. Mehr Infos unter www.tallinncard.ee.
Meine Reise wurde unterstützt vom Estonian Tourist Board und VisitTallinn.
6 Kommentare
Sehr schöne Bilder, macht wirklich Lust mal den Nordosten Europas zu entdecken.
Das freut mich, wenn dir die Fotos gefallen. Estland hat nicht nur eine feine Küche, man kann auch wunderbar wandern dort. Das dürfte dir gefallen.
Das sieht nach einem trendigen Foodie-Ziel aus, Antje. Wir hatten bei unserem Aufenthalt in Tallinn wieder mal viel zu wenig Zeit eingeplant. Das hätte uns auch gefallen.
Ist es auch, Monika. Einfache Küche oft, aber so kreativ und unglaublich lecker. Wir haben in jedem Restaurant nur eine Kleinigkeit probiert und sind dann weitergezogen. Trotzdem haben wir nur einen kleinen Eindruck erhalten, was dort wirklich abgeht.
Die Fotos machen nicht nur Lust auf Urlaub, sondern auch Appetit! 🙂 LG, Uta
So soll es sein, liebe Uta. Essen ist für mich eine wunderbare Art, ein Land kennenzulernen.