„Absinth ist nicht mehr das, was es früher einmal war“, resümiert Pierre. Wir sind mit dem jungen Chef der Destillerie Guy in Pontarlier verabredet. Trotz zahlreicher Besucher an diesem Samstagvormittag nimmt er sich ausführlich Zeit, zeigt uns seinen Wermut-Garten und das (nicht öffentliche) kleine Museum mit vielen Accessoires von der Gründungszeit der Destillerie bis heute. In seiner Aussage schwingt Bedauern mit.
Absinth, das Getränk der Bohémiens
Wie das gemeint ist, kann ich noch nicht so recht einordnen. Doch die Erklärung kommt sofort: Zur besten Zeit des Absinth, Mitte bis Ende des 19. Jahrhunderts, standen in Pontarlier über 20 Destillerien. Die größte und bekannteste war Pernod, der in der Spitze allein schon täglich bis zu 20.000(!) Liter abfüllte. Ein großer Teil davon ging an die französischen Truppen im Algerienfeldzug, denen tägliche Absinth-Rationen zugeteilt wurden. Mit der „Grünen Fee“ wurde das Leben an der Front, auch später im Ersten Weltkrieg, wohl erträglicher.
Um Absinth war in der westlichen Welt ein regelrechter Hype ausgebrochen, in Paris feierte man täglich die heure verte – die Gäste der Cafés kippten sich dabei schon zur Mittagszeit die Birne voll. Absinth übte, oft als Droge missbraucht, auf alle Schichten seinen Reiz aus. Dichter, Denker und Maler, von Ernest Hemingway, Oscar Wilde, Charles Baudelaire, Henri de Toulouse-Lautrec, Paul Verlaine, Paul Gaugin bis Vincent van Gough, waren dem Getränk mehr oder weniger verfallen. Weltbekannte Absinth-Gemälde von Picasso, Manet und Degas stammen ebenfalls aus dieser Zeit. Der Farbenrausch in den Bildern van Goughs kommt nicht von ungefähr – und vom abgeschnittenen Ohr des Meisters einmal abgesehen, passierten auch in Künstlerkreisen allerhand Dinge, die dem Absinth-Rausch geschuldet waren. Man schoss aufeinander, warf sich Gläser ins Gesicht …
Um 1900 gab es allein in Frankreich über 1.000 verschiedene Absinth-Sorten. Die meisten Absinth-Hersteller verwendeten aus Kostengründen anstatt hochwertigem Branntwein bald nur noch billigen Industriealkohol (für den Menschen schädlichen Methylalkohol), weshalb der Preis rapide fiel und fast jeder Bürger sich diese Gesöffe leisten konnte.
Auch deshalb wird längst angezweifelt, ob die Vergiftungen und die damals im Wahn begangenen Taten wirklich nur dem Wirkstoff Thujon (C10H16O) zuzuschreiben sind. Dieses Nervengift war im damaligen Absinth jedenfalls reichlich enthalten. Es stammt aus den ätherischen, erfrischend nach Menthol riechenden, aber bitter schmeckenden und in Alkohol löslichen Ölen der Wermutpflanze. Vielleicht lag es aber auch am starken Alkoholgehalt des billigen Fusels mit 70, 80 und mehr Volumenprozent? Oder – und das ist am wahrscheinlichsten – die verhängnisvolle Kombination aus beidem …
Es gab vor allem in Frankreich viele kritische Stimmen, die von „Teufelsgebräu“ sprachen – und im gleichen Atemzug Absinth für den Verfall der Sitten mit all seinen Symptomen und Begleiterscheinungen verantwortlich machten. Eine Gegen-Lobby bildete sich aus Politikern, Moralisten, Herstellern anderer alkoholischer Produkte, beispielsweise Wein.
Vom Teufelsdrink zum Trend-Cocktail
Die große Zeit des Absinth war dann ganz radikal vorbei: Ausgelöst durch ein Familiendrama in der Schweiz, bei dem anno 1905 ein notorisch trinkender Vater im Wein- und Absinth-Rausch Frau und Kind erschießt, verboten Belgien und Brasilien (1905), Niederlande (1908), Schweiz (1910), Italien (1913), USA und Kanada (1912) den Absinth. Frankreich (1915) und Deutschland (1923) zogen schließlich nach.
Wer dann noch Absinth trinken wollte, musste sich auf den Weg nach Portugal, Spanien oder Dänemark machen. Dort war Absinth immer legal und letztlich einer der Auslöser, warum das Absinth-Verbot in den 1990er Jahren aufgehoben wurde.
Seit 1998 darf die Spirituose wieder verkauft werden. Allerdings mit einem maximalen Thujongehalt von (sehr geringen) 10 mg/kg bei einem Alkoholgehalt ab 25 % vol.. Wird Absinth als Bitterspirituose produziert wie bei Guy, darf bis zu 35 mg/kg enthalten sein. Eine Überdosierung bis hin zur Vergiftung tritt irgendwo zwischen ca. 2 bis 10 g/kg ein. Möchte sich also ein erwachsener Mensch einen Thujon-Rausch wie in alten Zeiten zulegen, müsste er je nach Statur ganz zügig zwischen 100 und 200 Flaschen Absinth trinken. Zentrale Wirkungen verhindern dies ganz sicher vorher …
Noch eine Anekdote am Rande erzählt Pierre: Am 11. August 1901 brannte Pernod in Pontarlier ab. Aus Angst vor der Explosion des Alkohols wurde über eine Million Liter Absinth in den Fluss Doubs geleitet. Die Einwohner standen massenhaft am Flussufer, füllten fleißig ab, soffen den halben Fluss leer und freuten sich über das Gratis-Getränk!
Heute führt Pierre das 1890 gegründete Unternehmen in fünfter Generation – als einzige verbliebene Destillerie in Pontarlier. Das Portfolio umfasst mittlerweile neben verschiedenen Absinth-Sorten auch Pontarlier-Anis, das Absinth-„Ersatz“-Getränk, Le Vert Sapin, einen Tannenlikör sowie Obstbrände und -liköre bis hin zum Enzian und Crème de Cassis.
Absinth schmeckt pur oder auf Eis (ich persönlich mag das mit dem Würfelzucker nicht) oder als Cocktail. Hier sind zwei Rezepte für alle, die hart im Nehmen sind 😉
Dead in the afternoon
1 Flöte Champagner, etwas Absinth, 1 Würfelzucker
Vier kräftige Spritzer Absinth über den Würfelzucker in den Champagner geben, bis sich in diesem Wolken bilden – fertig! Dies ist eine von vielen Versionen des von Ernest Hemingway erfundenen Drinks.
Earthquake Cocktail
30 ml Dry Gin, 30 ml Bourbon Whiskey, 20 ml Absinth
Mit Eis im Shaker gut schütteln, in ein Collins-Glas geben – fertig! Eine Abwandlung eines Cocktails, den Henri de Toulouse-Lautrec auf seinen Partys servieren ließ.
Destillerie Guy, 49 Rue des Lavaux, 25300 Pontarlier, www.pontarlier-anis.com